Im Artikel „Weg mit den Büchern! Das Internet mache Bibliotheken überflüssig, sagt der Chef der ETH-Bibliothek im Interview. Entweder sie räumen ihre Bücherbestände aus und erfinden sich neu – oder sie werden verschwinden.“ von Michael Furger argumentiert Rafael Ball, dass Bibliotheken in der Zeit des Internets ihre klassische Funktion verloren haben. Das Informationsmonopol sei gekippt. Im Internet hat man Zugang zu mehr Büchern als einem auch die grösste Bibliothek zur Verfügung stellen könnte. Wieso also sollen wir den Bibliotheken in ihrer jetzigen Form nachtrauern? Bibliotheken sollten sich lieber neue definieren und ihrem Auftrag, den Menschen Wissen zur Verfügung zu stellen, in einer modernen Form nachkommen, welche die zur Verfügung stehende Technik nutzt und nicht gegen sie anzurennen versucht.
Dem ist eigentlich nichts entgegen zu stellen.
Ich habe dennoch zwei Einwände:
Die Bücher sollen auch noch in 2000 Jahren gelesen werden können. Elektronische Datenträger haben ihre liebe Mühe mit der Zeit. Ihre Lebenserwartung ist zur Zeit nicht gerade berauschend, aber das lässt sich sicher lösen. Man braucht aber auch Geräte, die die Information lesbar machen. Das stelle ich mir etwas kniffliger vor, allerdings bin ich auch diesem Punkt eigentlich ziemlich optimistisch. Und irgendwie sollte auch gesichert werden, dass nicht eine Katastrophe den Büchern den Garaus machen kann. Bibliotheken lösten das bisher, indem sie die Werke dezentral lagerten, doch neue Medien haben neue Feinde und die Server bloss auf verschiedenen Kontinenten zu platzieren, reicht da vielleicht nicht mehr. Ich denke da beispielsweise an EMPs oder auch an Hackerangriffe.
All das zusammen rechtfertigt meiner Ansicht nach schon den Fortbestand von Institutionen, die gedruckte Bücher sammeln, und sei es auch nur in sowas wie einem Svalbard Global Litertur Vault.
Mein zweiter und wichtigster Einwand aber ist der Griff daneben: Was mir an (offenen) Bibliotheken und Bücherläden am meisten gefällt, sind die Bücher rechts und links und oberhalb und unterhalb von jenem, das ich eigentlich gesucht habe. So entdeckt man nämlich Neues!
Klar, in gewissem Sinne lässt sich das auch im Internet bewerkstelligen, schliesslich sind es Algorithmen, welche die Anordnung der Bücher im Regal bestimmen. Sei es alphabetisch nach den Namen der Autoren, thematisch oder nach der ISBN Nummer. Analog lassen sich da ohne weiteres auch Algorithmen implementieren, welche dem Kunden die Bücher links und rechts (und oberhalb und unterhalb) vorschlagen.
Die Algorithmen von Amazon sind da aber wesentlich raffinierter und sympathischer, weil die Wahrscheinlichkeit, dass ich das von ihnen empfohlene Buch kaufe, ohne Zweifel um Grössenordnungen höher ist als die mit den Namensvettern oder ISBN-Nachbaren. Allerdings sind die empfohlenen Bücher nichts wirklich neues für mich. Sie sagen, was ich hören will. Und ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob das gut ist. Wenn es in einer Bibliothek kein Buch zum Mondlandungs-Hoax gibt, dann leih ich mir eben das Buch zur Mondlandung aus, und erfahre auf dieser Weise etwas, was mir andernfalls völlig entgangen wäre. Und genau deshalb ist die beschränkte Auswahl auch eine der Stärken von Bibliotheken. Damit bringen sie die Menschen auf neue Ideen.
Der Aufrag der Bibliotheken ist daher nicht nur, den Menschen Informationen zur Verfügung zu stellen, sondern bisweilen auch die falschen Informationen. Das ist vielleicht nicht im Interesse des Betroffenen, aber auf jeden Fall in dem der Gesellschaft. Weil Information, die meine Ansichten nicht bestätigt, den Graben zwischen den Menschen nicht grösser macht.