Jesus im anderen Hosenbein der Zeit

Ob die Geschichte des Abendlandes blutiger verlaufen wäre, wenn Jesus uns nicht geboten hätte dem Ohrfeiger die andere Backe hin zu halten, sondern ihm stattdessen den Kopf ab zu schlagen?
Ian Hazelwood, Philosoph

Nop
Milton Flannan, Experimental-Zeitreisender

Was wenn sich Jesus durch ein Wurmloch beim Masturbieren beobachten liesse? Welchen Einfluss hätte das auf die christliche Einschätzung der Selbstbefriedigung?
Oder wenn man ihn mit Judas vögeln gesehen hätte? Wäre Homosexualität dann okay?

Ich bin mir ziemlich sicher, man hätte schnell Bibelverse zur Hand, welche genau das schon seit jeher gemeint haben – bloss dass die Heilige Schrift bedauerlicherweise all die Jahre nicht gut genug gelesen wurde.
Das liesse sich sogar testen: Man nehme einen Theologen, setze ihn ein bisschen unter Drogen, präsentiere ihm gefälschte Evidenzen für die gelebte Homosexualität von Jesus sowie eine Bestätigung vom Papst höchstselbst, dass dies inzwischen allseits akzeptiert sei, und dann gibt man dem Theologen den Auftrag, er möge doch bitte einschlägige Bibel-Zitate suchen, die das erwähnen und gutheissen.

Kann Jesus überhaupt etwas moralisch verwerfliches anstellen? Ich meine natürlich nicht, dass er irgendwie mental programmiert ist, dass er beispielsweise Schweinefleisch nicht sehen kann, oder dass er aus einem Material besteht, durch welches Schweinefleisch einfach durchfällt. Das wäre zwar auch eine Möglichkeit, aber ich meine, dass Schweinefleisch, wenn er es isst, augenblicklich aufhört per se unrein zu sein. Wodurch er quasi der König Midas der Moral ist.

Die Verfluchung des Feigenbaums wäre ein anderes Beispiel. Bloss weil man hungrig ist und ein Feigenbaum aussererhalb der Erntezeit keine Früchte trägt, ist kein guter Grund diesen verdorren zu lassen. Und doch hat es Jesus getan. Und ich habe von niemandem gehört, der je Schwierigkeiten bekommen hätte, weil er einen Feigenbaum verflucht hat.

Im Beispiel, das ich mir etwas genauer ansehen will, geht es darum, dass man Jesus für seine Unnachgiebigkeit bewundert, es aber meines Erachtens genauso für dein Nachgeben hätte tun können.

Die Versuchung Jesu

Da gibt es doch diese Episode, wo Jesus für 40 Tage in die Wüste geht und dort vom Satan versucht wird. (Davon, dass niemand dabei war, der hätte bestätigen können, dass es sich tatsächlich so zugetragen hat und dass es da nicht noch ein paar weitere Versuchungen gab, denen Jesus nicht widerstand, soll hier nicht die Rede sein.)

Satan empfahl dem hungrigen Jesus, seine göttliche Macht zu nutzen und Steine zu Brot zu machen und damit seinen Hunger zu stillen (Davon, ob es auch dann eine Versuchung ist, wenn Jesus zu so etwas gar nicht in der Lage ist1, soll uns hier auch nicht interessieren.). Jesus tat es nicht2. Was aber wäre gewesen, wenn er getan hätte? Man hätte gejauchzt: Halleluja, ein Wunder! Und auf den Einwand, er habe dem Feind zugehört und eigennützig gehandelt, hätte man gekontert: Es ist gut, mit dem Feind zu reden. Das ist Nächstenliebe… Hat sich eigentlich schon mal jemand überlegt, ob die „Versuchung“ nicht vielleicht ein Angebot Satans war, sich mal zusammen an einen Tisch zu setzen und bei einem Schluck Wein (wenn schon dann schon!) zu überlegen, ob sich nicht irgendwo einen Kompromiss finden liesse, mit dem alle Seiten leben können, welches Jesus aber schnöde ausschlug?

Dann fragte Satan Jesus, wie sie so oben auf dem Tempel stehen, ob er als Sohn Gottes sich nicht von Engeln runter bringen lassen könne? (Wer noch nie nach einer durchzechten Nacht an einem völlig verrückten Ort aufgewacht ist, werfe den ersten Stein!) Jesus will  nicht3. Was aber wäre gewesen, wenn er es getan hätte? Auch hier hätte man gejauchzt: Halleluja, ein Wunder! Wie in der Schrift prophezeit, befielt er seinen Engeln, ihn auf ihren Händen zu tragen, damit sein Fuß nicht an einen Stein stößt.

Und zuletzt schlägt Jesus auf einem sehr hohen Berg4, das Angebot aus die Weltherrschaft anzutreten. Was aber wäre geschehen, wenn er sie übernommen hätte? Im alten Testament wird prophezeit, dass er Herrscher über die Welt werden würde. Und die Christen sind ohnehin überzeugt, dass er es ist. Von daher hätte es keinen Unterschied gemacht.
Wenn da nicht die Sache mit dem Niederwerfen gewesen wäre. Was wäre gewesen, wenn er sich niedergeworfen hätte? Halleluja, er zeigt Bescheidenheit und Demut. Ein König kniet nieder bei deiner Krönung.
Und das mit dem Anbeten? Hm… Es wäre ein unbequemer Kompromiss, welcher symbolisiert, dass ein König sich auch manchmal die Hände schmutzig machen muss um gutes zu tun. Doch indem er es offen tut, steht er dafür gerade. Nicht so geheime Vereinbarungen hinter verschlossenen Türen. Es ist kein Zuckerschlecken ein König zu sein. Und überhaupt, was wäre die Alternative? Soll der Gute Mann wegen einer Formalität die Herrschaft einem Strümper überlassen und damit die Welt vor die Hunde gehen lassen?

Wir sehen also: Alles wird gut, wenn Jesus es tut.

Quantitätstheorie der Unmoral

Wenn Masturbation auf einmal nicht mehr übel ist, welche theologischen Konsequenzen hätte das? Kommt einem Religion mit einer stetig schrumpfenden Zahl an Sünden zurecht? Oder ist da mehr dran?
Ich habe da eine Theorie: die Quantitätstheorie der religiösen Unmoral. Dieser zufolge braucht eine Religion immer eine kritische Masse an unmoralischen Handlungen, welche sicherstellt, dass man sich nie ganz sicher sein kann, wie es um das eigene Seelenheil bestellt ist. Religionen sind Schlepperbanden, welche die Schäfchen retten. Und das Geschäft funktioniert umso besser, je weniger man weiss, wo die Grenzen liegen5. Deshalb poppt für jedes rehabilitierte Gräuel irgendwo ein neues auf.
Es ist natürlich nicht so, dass der Papst über den Stand der Sünden Buch führt und systematisch neue einführt. Das geschieht ganz von alleine, wenn das Dogma „Wir alle sind Sünder“ ist. Wenn man Sünder sein will und einem die Sünden ausgehen, gewichtet man die übrigen neu oder schämt sich (und andere) eben für was anderes.

Andersrum

Sich verführen zu lassen ist doof und kann einen schnell mal das ewige Leben kosten6. Man kann sich allerdings auch von der anderen Seite verführen lassen (siehe Bild links) und damit gewinnt man das ewige Leben7. Verführung ist also nur dann verdammenswürdig, wenn Jesus im anderen Hosenbein der Zeit8 steckt.

Bei den Versuchungen oben verkniff sich Jesus Wunder.
Bei anderen Gelegenheiten vollbrachte er sie durchaus. Obgleich auch dort galt, dass man nicht vom „Brot“ allein lebt („Brot“ kann hier für alles stehen, was sich mit einem Wunder in Ordnung bringen lässt) und dass man Gott nicht auf die Probe stellt (ein Wunder ist nichts anderes). Hätte er sich die vollbrachten Wunder nicht konsequenterweise auch verkneifen müssen? (Die Sache sähe natürlich ganz anders aus, wenn er die Versuchungen deshalb ausgeschlagen hätte, weil er keine Wunder für sich selbst vollbring will. Doch genau das wird nicht angeführt… Sollte einen das nicht stutzig machen?)

Aber eben, es ist egal, in welchem Hosenbein der Zeit Jesus steckt, es ist immer das richtige.

Wenn ich etwas für ethisch richtig halte und das Gegenteil davon tue, dann ist das böse.
Wenn Jesus etwas für moralisch richtig hält und das Gegenteil davon tut, dann ist das immer noch gut. Weil er es tut9.
Die Konsequenzen können aber verschieden sein. Auf der einen Seite könnte der Himmel auf Erden stehen und auf der anderen Nordkorea. Beides unausweichliche Folge der Vorbildfunktion seiner Taten. Und doch ist Jesus lieb und alles was er macht, moralisch spiegelniegel.

Die Nächstenliebe, der alte Bastard

Die Liebe ist etwas wunderbares. *seufz*
Doch wenn man versehentlich die falschen Werte vertritt, kann es auch übel ins Auge gehen…

Es gibt verschiedene Arten von Liebe. Wenn man als Liebender jedoch von einer wichtigen Sache um Grössenordnungen mehr versteht als der Geliebte, dann haben wir es ganz klar mit einer Art von Elternliebe zu tun, bei welcher der Liebende eine Verantwortung dem Geliebten gegenüber übernimmt, die er einem Fremden gegenüber so nicht hätte.

Deshalb hält der Wahre Christ schliesslich auch dem Fremden die andere Wange hin (Matthäus 5,39), während er beim Sohn seine Liebe mit der Rute praktiziert (Sprüche 13,24).

Wenn ich Rauchen für schädlich halte, werde ich es nur dann allgemein zu verbieten versuchen, wenn es auch für mich als Unbeteiligten schädlich ist und/oder wenn ich fürchten muss, dass ich später für die Kosten werde aufkommen müssen. Sollte Passivrauchen jedoch auf wundersame Weise weder schädlich noch störend sein und sollten durch den verfrühten Tod der Raucher die Kosten im Gesundheitswesen angenehm sinken und es allgemein keine negativen Folgen für die Gesellschaft haben, dann habe ich als rationaler Mensch eigentlich keine Gründe mehr den Leuten das Rauchen auszureden. Ausser ich bin ein empathischer, netter Mensch. Dann werde ich es ihnen zwar trotz des für mich daraus resultierenden wirtschaftlichen Nachteils ausreden, aber ich werde nicht versuchen, ihnen das Nichtrauchen per Gesetz aufzuzwingen. Weil ich als empathischer, netter Mensch ihre Meinung, auch wenn ich sie für falsch halte, respektiere und überzeugt davon bin, dass niemand das Recht hat anderen seinen Willen aufzuzwingen.
Wenn ich Rauchen für schädlich halte und meinen Sohn dabei erwische, wie er eine Zigarette pafft, dann ist es mir egal, ob Passivrauchen weder schädlich noch störend ist. Und es ist mir egal, ob Rauchen die Gesundheitskosten sinken lässt. Und ganz besonders egal ist mir, ob man als empathischer netter Mensch eigentlich kein Recht hat jemandem seinen Willen aufzuzwingen. Ich werde ihm in seine Angelegenheiten reinreden. Und zwar sehr deutlich.

Beim Thema Rauchen gibt es Studien, die meine Position stützen. Beim Thema Masturbation fehlen jedoch Studien, welche die Schädlichkeit belegen. Und wenn ich meine ganze Macht einsetze um die von mir geliebten Personen von dieser meiner festen Überzeugung nach verheerenden Beschäftigung abzuhalten, kann ich damit einen beachtlichen Schaden anrichten. Wohlgemerkt, ich bin nicht naiv, ich bin mir durchaus im Klaren darüber, dass ich mit meinen masturbationsverhindernden Massnahmen den Betroffenen ein gewisses Leid bereite, doch bin ich felsenfest überzeugt davon, dass es deutlich kleiner ist als das Leid, welches das Masturbieren verursacht hätte. Bloss dass ich damit nicht recht habe und das vermeintlich kleinere von zwei Übeln das einzige Übel ist.

Das ist zwar traurig für die Betroffenen, doch sind es wenigstens nur relativ wenige Menschen, deren Wohl mir wichtiger ist als mein eigenes und für die ich demzufolge eine Verantwortung trage, welche ihre Selbstbestimmung jederzeit ausser Kraft zu setzen vermag.
Ausser natürlich ich bin von Nächstenliebe erfüllt, dann ist keiner vor meinem Besserwissen sicher…

Mit der Nächstenliebe verlegt man sich von der anderen Wange zur Rute.