Exknackies als Nachbarn

„Auge für Auge, Zahn für Zahn“ ist zwar barbarisch und nachweislich nicht besonders effizient in Sachen Verbrechensprävention, eine gewisse naive Eleganz aufgrund der Klarheit im Strafmass kann man einem solchen Rechtssystem aber nicht absprechen. Wenn einem Bürger der Zahn ausgeschlagen wird, sorgt die Gesellschaft dafür, dass dem Übeltäter ebenfalls ein Zahn ausgeschlagen wird. Und die Sache ist geregelt1. Der Trick ist, dass man die Strafe von einer unbeteiligten Drittperson ausführen lässt, wodurch beide Parteien halbwegs überzeugt sein können, dass die Strafe weder zu hart noch zu mild vollstreckt wurde.

Klar, noch besser wäre, wenn das Opfer dem Täter einfach so verzeihen würde. Damit wäre der Welt der Verlust eines weiteren Zahnes erspart geblieben. Das Problem ist aber, dass dies den Täter nicht davon abhalten wird im Bedarfsfall nochmals wem einen Zahn auszuschlagen.
Die Sache sieht jedoch auf einmal anders aus, wenn das Opfer dem Täter auch noch den anderen Zahn zum Ausschlagen anbietet2 3. Wegen dem einen Zahn hat der Täter nämlich noch kein schlechtes Gewissen, schliesslich hat es das Opfer nach seiner Ansicht ja verdient4, doch spätestens nach dem zweiten, dritten Zahn ist die Schuld beglichen und ein ungutes Gefühl macht sich bemerkbar. Von diesem Moment an geht der Täter mit Schuldgefühlen durch die Welt und trachtet danach diese wieder gut zu machen. Beispielsweise indem er dem nächsten, der es verdient einen Zahn ausgeschlagen zu bekommen, keinen Zahn ausschlägt5, was idealerweise ein Glücksgefühl hervorruft, welches ihn veranlasst niemals mehr irgendwem einen Zahn ausschlagen zu wollen.6
Doch selbst wenn die Andere-Zahn-Hinhalten-Strategie tatsächlich den Täter langfristig davon abhält, nochmals gewalttätig zu werden, so bezweifle ich, dass sie das auch bei anderen potentiellen Zahn-Ausschlägern schafft. Die Aussicht7, jemandem auch einen zweiten Zahn ausschlagen zu müssen, wird wohl kaum jemanden davon abhalten den ersten – wohlverdienten – auszuschlagen. Klar, der zweite Zahn wird, wie oben erwähnt, schlussendlich dazu führen, dass dem Täter die Lust vergeht, je wieder einen Zahn ausschlagen zu wollen, doch dieser Effekt ist meines Erachtens nur erfahrbar, nicht aber vermittelbar, weil nicht wirklich abschreckend.
Und auch wenn es die zukünftigen Täter entgegen allen Erwartungen doch überzeugen sollte, dass das schlechte Gewissen hinterher ziemlich übel sein wird, dann werden diese dem einfach dadurch vorbeugen, dass sie erstmal nur einen halben Zahn ausschlagen um sich – als treue Gesetzesbürger – einfach etwas später8 auch noch der zweiten Hälfte des nach ihrer Ansicht völlig begründeten Gewaltausbruchs zu widmen.

Randnotiz: Ist es nicht irgendwie komisch, dass in der Erziehung9 von Fremden auf die Strategie des Verzichts auf Gewalt gesetzt wird („Ich aber sage euch: Verzichtet auf Gegenwehr, wenn euch jemand Böses antut! Mehr noch: Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die linke hin.“ Matthäus 5:39), während man dies bei der der eigenen Kinder offenbar tunlichst zu unterlassen hat(„Wer seine Rute schont, der haßt seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn bald.“ Sprüche 13:24)?
Der Schluss liegt daher nahe, dass es bei der anderen Backe gar nicht um die Erziehung des Täters geht, sondern allein um die persönliche Verarbeitung des an einem verübten Unrechts – wobei die Frage, ob es nicht vielleicht ein bisschen „verdient“ war, gänzlich ausgeklammert wird.
Das Argument, dass es bei Kindern einfach einer anderen Art von Erziehung bedürfe als bei Erwachsenen, halte ich für wenig überzeugend, denn die Trennung zwischen Kindheit und Erwachsensein wurde zu jener Zeit noch nicht so gelebt, wie man es heute tut10. Und hinzu kommt noch, dass es Christen gibt, welche die körperliche Züchtigung der Ehefrau für ein von der Bibel gestütztes Erfolgsrezept halten11, was meinen Schluss über den Zweck der anderen Backe klar unterstützt.

Beide Methoden konzentrieren sich auf das Opfer: Im Zahn-für-Zahn Fall wird dessen Rachelust gestillt und im Andere-Backe Fall wird das Leid als willkommene Etappe auf dem Heilsweg verkauft. Beides ziemlich egoistisch, finde ich. Es wird nämlich nirgends das nächste Opfer berücksichtigt. Dabei ist doch eigentlich das das wichtigste. Denn im Gegensatz zu nächsten Opfer ist beim aktuellen der Schaden bereits angerichtet und lässt sich auch nicht mehr rückgängig machen. Damit will ich das Opfer nicht alleine lassen, ganz im Gegenteil, ihm soll jede nur erdenkliche Hilfe zuteil kommen – sofern diese Hilfe das nächste Opfer nicht in Gefahr bringt.
Wenn es das nächste Opfer nicht gäbe (was es nach Ansicht des Endzeitpropheten Jesus wohl nicht mehr tun sollte), wäre es Johannes wie Thaddäus wie man mit den Täter umspringt. Daher ist ein versöhnlicher Ansatz gar keine schlechte Idee. Wenn es aber mehr oder weniger nächste Opfer geben kann, sollte man sich – so finde ich zumindest12 – tunlichst bemühen, es weniger sein zu lassen – selbst wenn das bedeutet, dass der „Gerechtigkeit“ nicht ganz genüge getan wird13.
Und wenn die Zahl der der nächsten Opfer mit der Behandlung der Täter korreliert, so ist das ein vielversprechender Hebel um anzusetzen.

Wieso also den Täter nicht mit den folgenden Worten im Strafvollzug willkommen heissen: „Eines Tages wirst du hier wieder raus kommen und es besteht die Möglichkeit, dass du in meine Nachbarschaft leben wirst. Deshalb tue ich mein Bestes dich zu einem guten Nachbaren zu machen.“14

Ob es Kuscheljustiz ist oder nicht, sollte nicht die Frage sein. Einzig und allein sollte der Erfolg zählen. Und der Erfolg ist weniger nächste Opfer. Und die nächsten Opfer kann man zählen.
Weniger Opfer ist aber nicht gar keine. Deshalb wird man sich bei jedem nächste Opfer fragen, ob es mit einem härteren Strafsystem nicht hätte verhindert werden können? Man hätte natürlich genauso gut auch fragen können, ob es mit einem kuscheligeren Strafsystem nicht hätte verhindert werden können – was sogar naheliegender wäre, wenn man sich die Korrelation zwischen Kuscheljustiz und Kriminalitätsrate anschaut, aber in solchen Situationen fällt einem diese in der Regel nicht auf. Die Antwort auf die Frage könnte dann unter Umständen so lauten: „Ja, mit einem härteren Strafsystem hätte womöglich genau diese eine Tat verhindert werden können, doch wären stattdessen X andere, vielleicht sogar viel schlimmere Verbrechen begangen worden, die uns jetzt aber zum Glück erspart geblieben sind.“
Einem Opfer und dessen Angehörigen spendet das natürlich wenig Trost. Doch darauf dürfen wir als Gesellschaft keine Rücksicht nehmen. Wir müssen so vielen wie möglich ein so sicheres Leben wie möglich garantieren.

Uns stehen verschiedene Strategien zur Verfügung, deren Erfolg wir durch entsprechende Untersuchungen in Pilotprojekten und aus Erfahrungen in anderen Ländern durchaus grob abschätzen können. Manche der Strategien verhindern eine Art von Verbrechen, während sie auf andere Arten kaum einen Einfluss haben. Manche Strategien lassen sich mit anderen kombinieren, mit anderen hingegen nicht. Manche sind intuitiv, andere weniger…
Sich für eine Strategie oder eine Kombination von Strategien zu entscheiden, bedeutet aber immer auch die Opfer, welche eine andere Strategie oder Kombination von Strategien verhindert hätte, in Kauf zu nehmen. Deshalb muss man wirklich sehr gute Gründe haben, warum man sich so und nicht anders entschieden hat. Und „Gott will es so!!!“ ist (trotz der ansonsten durchaus überzeugenden drei Ausrufezeichen) kein wirklich sehr guter Grund. Ein wirklich sehr guter Grund ist einer, den alle (zähneknirschend15) zu akzeptieren bereit sind. Und die Wünsche einer imaginären Gestallt kann ich – wenn ich die Wünsche für verhängnisvoll erachte – nicht mal zähneknirschend akzeptieren.

Das heisst aber, dass selbst wenn luxuriöse Haftbedingungen die Kriminalitätsrate proportional um Luxus senken, so können wir diese Option durchaus über Bord werfen – sofern wir eine andere Strategie zur Verfügung haben, die mindesten die gleiche Erfolgsquote hat. Bloss um unsere Rachelust zu befriedigen – so natürlich diese auch sein mag – dürfen wir aber nicht einfach ein paar Opfer mehr hinnehmen.
Insbesondere da es ja eigentlich nicht mal wirklich unsere Rache ist. Das Opfer ist ein anderer, wir wollen bloss den Täter bestrafen. Klar, so funktioniert soziale Kontrolle: Indem man jemanden der sich gegen die Regeln verhalten hat, kollektiv bestraft: Was du deinem Peiniger antun willst, das füg auch den Peinigern von anderen zu16. Allerdings gibt es, wie wir inzwischen wissen, wesentlich effektivere Methoden jemanden daran zu erinnern sich lieber an die Regeln zu halten und unsere Neigung die Täter zu stigmatisieren – schliesslich wollen wir wissen, ob ein Zahnausschläger in unserer Nachbarschaft wohnt – ist da möglicherweise eher hinderlich dabei ihn zu einem guten Nachbaren zu machen.

  1. Was aber, wenn das Opfer es verdient hat? Nach Ansicht des Täters tut es das immer, nach Ansicht des Opfers nie, nach Ansicht des unparteiischen Richters zum Teil. Letzterer darf wohl gerechterweise als ausschlaggebend betrachtet werden. Wird man dann mit einem halben Zahn gebüsst? Oder etwas einem halben Zahn entsprechendem? Was könnte das sein? Hier gehen die Meinungen sehr schnell auseinander. Deshalb eignet sich dieses System eigentlich auch nur für Unfälle – wo man eigentlich ein Auge zudrücken müsste.
  2. Ist das von Jesus als verbindlich gedacht? Also dass man zur Rechenschaft gezogen wird, wenn man die andere Backe nicht anbietet? Wer wäre in einem solchen Fall das Opfer, welches auch hier die andere Backe anbieten müsste? Und was genau wäre die andere Backe hier? Könnte es sein, dass Jesus mit diesem Catch (dessen genaue Zahl müsste noch bestimmt werden) quasi mit den Mitteln des Teufels alle dermassen in verwickelte Diskussionen zu verwickeln versuchte, dass darob die ganze Kriminalität vergessen worden wäre?
  3. Interessant auch die Frage, wie man diese Strategie auf Verbrechen wie Masturbation, Homosexualität und das Rasieren anwenden will?
  4.  Das „Verdient-Haben“ lässt sich noch erstaunlich ausweiten: Er kommt überall dort zum Tragen, wo der Schaden für den anderen für geringer erachtet wird als der Benefit aus der Tat. Hier liegt der ausgeschlagene Zahn in der einen Schale der Waage und die daraus gezogene Lehre und die Genugtuung in der anderen. Das gleiche gilt auch für den Diebstahl meines Natels. Es ist ärgerlich, aber keine Katastrophe, weil ich es mir selbst im Fall, dass es die Versicherung nicht bezahlt, schon irgendwie leisten kann. Auf der anderen Seite ist die Frage, ob der Dieb es sich leisten kann, das Handy nicht zu klauen? Wenn der Dieb aus dem Erlös des Diebesguts seine Familie mit Brot versorgen kann, dann ist die Waage „Ärger mit dem Beschaffen und Einrichten eines neuen (und besseren) Smartphones“ vs. „Kein Ärger mit den knurrenden Bäuchen der neunköpfigen Familie“ wahrscheinlich relativ ausgeglichen. Wenn jedoch der Dieb seine Familie mit Kaviar füttert oder durch den Verlust meine Existenz bedroht ist (beispielsweise weil ich das 25-stellige Passwort für meinen Herzschrittmacher nur auf dem Smartphone notiert hatte), dann ist sie massiv aus dem Gleichgewicht und demzufolge „nicht-verdient“. (Dass der Dieb die Schwere seiner Tat in der Regel nicht abschätzen kann, macht sie so problematisch – bei einem von langer Hand geplanten, hollywoodreifen Raub sieht die Sache natürlich anders aus. )
  5. Was aber für das Opfer durch die entgangene Lehre aus dem Schlag durchaus ein Schaden darstellen kann. Wir setzen daher stillschweigend voraus, dass einfach statt des Schlages eine andere pädagogische Massnahme ergriffen wurde (welche allerdings vom „Belehrten“ durchaus wieder als ungerechtfertigt betrachtet werden kann – eine Zwickmühle..).
  6. Man muss aber vorsichtig sein, denn nach dem fünften, sechsten Zahn, wird die Schuld gefühlt so gross, dass an eine Wiedergutmachung nicht mehr zu denken ist und dann kann man sich auch gleich alle Skrupel sparen – so nach dem Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeneniert.
  7. Ob von Gesetzes wegen verordnet oder auf Wunsch des Opfers macht hier eigentlich keinen Unterschied.
  8. Wie viel später wurde meines Wissens nie thematisiert, spielt psychologisch aber sicherlich eine entscheidende Rolle!
  9. Und Strafe, resp. deren Androhung im Bezug auf unerwünschtes Verhalten ist durchaus ein Akt der Erziehung.
  10. vgl. Neil Postman „Das Verschwinden der Kindheit“
  11. vgl. Christian Domestic Discipline
  12. Die Überlegung, dass auf lange Sicht mehr nächste Opfer weniger Opfer insgesamt bedeuten, weil Gott ein lieber Gott ist, halte ich für wenig überzeugend und daher nicht wirklich für eine Position, auf die man guten Gewissens setzen sollte. Wenn ich auch eingestehen muss, dass einmal 7’433’871’641 (Stand: 28.5.2016 13:45:42) Menschen umzubringen vielleicht wirklich unter dem Strich weniger Leid bedeutet als über 10 Milliarden Jahre jedes Jahr 10 Milliarden Menschen 5 bis 10 Mal gegens Schienbein zu treten.
  13. Zur Illustration aus einem anderen Bereich: Abtreibungen sind eine traurige Sache und wir wünschen uns alle diese so gering wie möglich zu halten. Die Erfahrung zeigt aber, dass wo die Abtreibung legal ist, es weniger von ihnen gibt, als wo sie illegal ist. Indem wir also die „Übeltäter“ nicht bestrafen, ermöglichen wir ein Klima, in welchem es weniger „Übeltäter“ gibt. Lohnt es sich da nicht im Interesse einer möglichst geringen Anzahl von Abtreibungen auf die Gerechtigkeit zu verzichten?
  14. Inspiriert durch Michael Moores Norway is unbelievable for americans
  15. Das zeigt, dass hier Kompromissbereitschaft notwendig ist.
  16. Könnte das das lange verschollene Gegenstück zur Goldenen Regel sein? Der kategorische Punitiv sozusagen!

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