Die Grenzen des Autoritätsbias

Das Autoritätsargument ist ein Fehlschluss – zumindest so lange, wie die überprüfbaren Belege der erwähnten Autorität nicht nachgereicht werden können. Wenn man diese hingegen nachreichen kann, dann ist das eine bequeme und legitime Abkürzung.

Der Autoritätsbias ist etwas ganz anderes. Das ist unsere natürliche Tendenz die Meinung einer in der Hierarchie uns übergeordneten Persönlichkeit zu übernehmen. Das ist eine natürlich, nicht immer unproblematische, soziobiologisch Reaktion.
Bisweilen wird allerdings statt von der in der Hierarchie übergeordneten Persönlichkeit auch einfach von einem Spezialisten gesprochen. Dies klingt zwar weitgehend deckungsgleich, impliziert jedoch, dass es hier nicht mehr um das Sozialverhalten, wo man die Gültigkeit einer Aussage allein aus der übergeordneten hierarchischen Position der Autorität ableitet,  sondern um die Qualität der Argumentation, welche durch überprüfbare und von Peers weitestgehend akzeptierten Belege gestützt wird, geht. Und das kann verhängnisvoll sein.

Beispielsweise wenn man leichtfertig dazu aufruft jeglicher Autorität gegenüber respektlos zu sein wie dies Rolf Dobelli in seinem Buch „Die Kunst des klaren Denkens“ tut. Er baut seine Argumention auf verschiedenen Beispielen auf:

  • Keiner der Abermillionen von ausgebildeten Ökonomen schaffte es das Timing und den Hergang der Finanzkrise vorauszusagen.
    Stimmt, doch erhebt die Ökonomie überhaupt für sich in Anspruch genau dies exakt tun zu können? Dass einzelne Exponenten ein anderes Verständnis von der Präzision der Voraussagbarkeit in der Wirtschaft haben, ist ihre persönliche Fehleinschätzung und kann der Wissenschaft an sich nur sehr begrenzt zum Vorwurf gemacht werden.
  • Bis ins Jahr 1900 war es nachweislich besser als Kranker nicht zum Arzt zu gehen.
    Stimmt, weil die Ärzte zu jener Zeit nur „drei“ Krankheiten erfolgreich behandeln konnten und der Job des Arztes eigentlich nur daraus bestand zu schauen, ob die konkrete Krankheit eine jener drei ist und wenn ja die Therapie anzuwenden. Die Ärzte waren sich dessen bewusst, versuchten aber nichtsdestotrotz ihr bestes – und verschlimmerten die Sache in den meisten Fällen nur. Auch hier liegt eine persönliche Fehleinschätzung vor, begünstigt noch durch die Unkenntnis der Tatsächlichen Wirkzusammenhänge.
  • In Milgrams Experiment brachte der Versuchsleiter seine Probanden dazu andere Probanden im Dienste einer höheren Sache zu quälen.
    Stimmt, doch hier ging es darum den Autoritätsbias überhaupt erst nachzuweisen, indem man zeigte, wie leichtfertig die Probanden die Verantwortung an ihren Handlungen allein aufgrund einer anwesenden Autorität weiter zu geben bereit sind. Neuere Untersuchungen zeigen, dass Milgram verschiedene Variationen dieses Experiments durchgeführt hat, wobei diese hier das mit Abstand deutlichste Resultat erbrachte.
  • Viele Unfälle in der Luftfahrt ereigneten sich weil der Pilot etwas übersah und der Copilot sich nicht traut es anzusprechen.
    Genau, hier haben wir es endlich tatsächlich mit einem unverfälschten Autoritätsbias zu tun.

 

Das Beispiel aus der Luftfahrt unterscheidet sich allerdings fundamental von den anderen dadurch, dass der Copilot, was das Wissen und die Erfahrung angeht, auf einem ähnlichen Level steht wie der Pilot. Sprich, er könnte diesen im Notfall ersetzen, wodurch sein Schweigen allein auf die Ehrfurcht vor der sozialen Stellung zurückgeht. Das ist jedoch beim Wirtschaftswissenschaftler, resp. Arzt des 19. Jahrhunderts nicht gegeben, weil hier ein Verhältnis zwischen Laie zum Spezialist vorliegt. Klar, was das Tippen auf Börsenkurse betrifft, kann der Normalsterbliche durchaus manchmal besser liegen, doch das ist nur winziger Bruchteil der Wirtschaftswissenschaften, die allerdings auch enthält, wieso es sich bei den Börsentipps genau so verhält. Und klar, ein Hahnemann hat zweifellos genau dadurch etliche Leben gerettet, dass er sprichwörtlich nichts gemacht hat, doch das ist nicht sein Verdienst und schmälert auch nicht die noch so bescheidenen Leistungen der Medizin.
In winzigen Teilgebieten der Ökonomie und der Medizin mag der Zufall zweifellos manchmal besser liegen, jedoch nie im Cockpit eines Flugzeugs. Und deshalb können wir auch nur aus dem Beispiel aus der Luftfahrt etwas lernen und die Erkenntnisse in anderen Branchen übertragen – was zweifellos mehr als angebracht ist.

Doch aus dem Beispiel mit dem Arzt verleitet dazu auch die moderne Medizin zu hinterfragen, inklusive beispielsweise des Impfens. Eine Einschätzung, für die es eigentlich eine wesentlich fundiertere Qualifikation braucht, als einen Analogieschluss.
Als ob das noch nicht schon genug wäre, knüpft Dobelli den Status dieser Spezialisten an Äusserlichkeiten statt an die Zustimmung ihrer Peers. Doch nicht die Überzeugung der Passagiere macht den Piloten zum Chef, sondern die des Copiloten um den Wissens- und Erfahrungsvorsprung. Und nicht der Titel macht den Arzt oder Wissenschaftler zu einem Experten, sondern die andauernde Bestätigung innerhalb des Diskurses mit seinen Fachkollegen.
Weiter merkt Dobelli an, dass in jeder Zeit andere Autoritäten sexy sind und man die Autorität gern fachübergreifend einzusetzen versucht. Das stimmt zwar, doch das ist der Fehlschluss „Autoritätsargument“ und hat mit dem Bias, wie gesagt, nicht viel zu tun.

Dies alles bedenkend, sieht auch Milgrams Experiment auf einmal etwas anders aus, als es vielleicht auf den ersten Blicke erscheint. Es gibt hier nämlich verschiedene Ebenen, auf denen die Autorität wirkt. Zum einen die technische, wo der Versuchsleiter sehr wohl besser als der Proband weiss, wie gefährlich die Stromstösse sind. Und zum anderen die ethische, wo dem Versuchsleiter aber keine besseren moralischen Urteile, die dies rechtfertigen würden, zur Verfügung stehen als dem Probanden. (Hier könnte man bestenfalls zu argumentieren versuchen, dass es sich hier um bedauerliche Opfer zum Wohl der Menschheit handelt. Und tatsächlich sind wir nicht selten geneigt eine solche Begründung durchgehen zu lassen.)

Unter dem Strich empfiehlt es sich den Autoritätsbias gegenüber einem Menschen nur dann abzulegen, wenn man in der Lage ist, ihn in seiner Aufgabe zu ersetzen. Wobei man sich hier höllisch vor dem Dunning-Kruger-Effekt in Acht nehmen muss, nämlich dass man sich umso sicherer ist etwas von einer Sache zu verstehen, je weniger man effektiv von ihr versteht.